Wenn ihr die Erfahrung einer Tod- oder Fehlgeburt machen musstet, dann habt ihr eine sehr schlimme Erfahrung gemacht – unabhängig vom Alter des Kindes. Eine Erfahrung, die euer Leben verändert. Dabei ist es doch ein Naturgesetz, dass Kinder nicht vor den Eltern sterben. Und dieses Naturgesetzt wurde außer Kraft gesetzt! Es ist völlig normal, dass ihr euch fassungslos, ohnmächtig, wütend, ängstlich, verzweifelt, schuldig und tieftraurig fühlt, auch noch nach einigen Wochen oder Monaten.
Wahrscheinlich stellt ihr gerade fest, dass ihr ganz unterschiedlich auf den Verlust eures Babys reagiert. Sieht es so aus, als ob der Vater viel weniger betroffen ist als die Mutter? Reagiert er distanziert und gleichgültig? Und sie übertreibt und macht mit ihren Gefühlsausbrüchen alles nur noch schlimmer?
Wie intensiv der Schmerz empfunden wird, hängt davon ab, wie intensiv die Bindung zum Kind schon war. Deshalb verwundert es nicht, dass Frauen in der Tat meistens tiefer und länger trauern als Männer.
Das Baby ist Teil des Körpers der Mutter. Vor allem, wenn die Mutter das Kind schon körperlich gespürt hat, empfindet sie den Verlust des Babys so, als ob ein Teil von ihr herausgerissen wird. Sie erlebt den Tod ihres Babys ganz unmittelbar. Oft quält sie sich mit Schuld- und Versagensgefühlen: „Hätte ich doch nur nicht…“ oder „Mit mir stimmt etwas nicht“.
Der Vater hingegen kehrt viel schneller wieder zum Alltag zurück und richtet den Blick nach vorne. Er kennt sein Baby vom Ultraschall, sieht und hört sein Herzchen schlagen, doch er ist nicht körperlich mit ihm verbunden. Manchmal haben Väter nicht mal den Raum, sich auch nur gedanklich dem werdenden Kind zu widmen. Erst wenn durch Handauflegen spürbar wird, dass das Kind sich bewegt, wird es als eigenständiges Wesen erahnbar. Das ist aber erst bei fortgeschrittener Schwangerschaft möglich.
Viele Männer würden eine richtige Bindung erst bei der Geburt oder in den ersten Wochen danach aufbauen. Das interpretieren Frauen immer wieder als mangelnde Liebe für das Baby fehl. Dabei ist es einfach ein naturgegebener Unterschied zwischen Müttern und Vätern.
Manche Männer finden aber auch, dass sie schlimmer dran sind, weil sie die Erfahrung eben nicht so unmittelbar durchleben konnten, wie ihre Frau.
Wenn ein Paar ein ungeborenes Kind verliert, dann ist der Vater selten schon «Vater». Die Frau hingegen ist vom ersten Moment der Schwangerschaft an Mutter.
Gemeinsam die Geburt des toten Kindes zu erleben, sich Zeit zu nehmen, das Kind kennenzulernen und sich zu verabschieden, kann auch bei den Vätern Liebe und Bindung wachsen lassen. Es kann potenzielle Beziehungsprobleme reduzieren und eine Brücke zwischen den Partnern bauen helfen.
Natürlich trauert jeder Mensch auf seine eigene Art. „Extrovertierte“ möchten sich anderen mitteilen, viel über ihre Gefühle sprechen. „Introvertierte“ machen die Sache mit sich selbst aus, zeigen ihre Gefühle nach außen nicht. „Denker“ verarbeiten rational, was sie erlebt haben, während „Fühler“ emotional reagieren. „Pragmatiker“ finden sich schnell mit den Tatsachen ab, „Intuitive“ spüren noch lange nach, was die Erfahrung bedeutet. „Planer“ brauchen Kontrolle und wollen Dinge schnell abschließen. Dagegen nehmen „Wahrnehmende“ die Dinge wie sie kommen und können gut mit offenen Enden leben.
In unserer Gesellschaft werden Männer oft in die Rolle des Introvertierten, des Denkers, des Pragmatikers, des Planers hineingedrängt. Frauen meistens in die entgegengesetzte Position.
Nun ist es so, dass jeder von uns weibliche und männliche Anteile in sich trägt. Die männlichen berufen sich auf ihre Stärken, handeln und sind zukunftsorientiert. Die weiblichen suchen eine stützende Gemeinschaft, wollen ihren Schmerz ausdrücken und Vergangenes abschließen. Männer kommen an ihren Schmerz eher durch körperliche Empfindungen und durch die Wut. Frauen kommen eher an ihre Wut durch den Schmerz und ihre Worte.
Stress – und ein Kind zu verlieren ist Stress in extremem Maße – bringt unsere Schattenseiten zum Vorschein, die Seiten, die wir nicht mögen und die vielleicht bisher nur selten aufgetaucht sind. Nicht gelebte Trauer kann sich zum Beispiel als Aggression gegen den Partner richten.
Ihr könnt euch fragen:
- Wie tief war denn die Bindung zu unserem Kind bei jedem von uns?
- Hatte ich als Mann die Möglichkeit bei der Geburt aufzuholen?
- Interpretiere ich als Frau vielleicht die mangelnde Bindung meines Mannes an unser Kind als Gleichgültigkeit?
- Sind wir Partner sehr gegensätzlich und wenn ja, wie wirkt sich das in dieser Trauerzeit aus?
- Wer von uns beiden verarbeitet eher extrovertiert, wer eher introvertiert?
- Wer ist mehr Denker, wer mehr Fühler?
- Wer ist eher pragmatisch?
- Wer versucht eher Dimensionen der Erfahrung intuitiv zu erschließen?
- Wer braucht mehr Kontrolle über seine Umwelt und wer nimmt das Leben mehr wie es kommt?
- Auf einer Skala von 1 – 10: Wie stark sind die männlichen, wie stark die weiblichen Anteile in mir? Wie wirkt sich das auf unsere Beziehung aus?
- Wie haben wir uns beide verändert seit dem Tod unseres Babys?
- Welche bislang kaum bekannten Schattenseiten sind aufgetaucht?
Eure Beziehung verändert sich
Der Verlust eines Kindes ist oft eine Belastungsprobe für eine Beziehung. In manchen Fällen gerät die Partnerschaft in eine so schwere Krise, dass es zur Scheidung kommt.
Manche Beziehungen drohen daran zu zerbrechen, dass der Mann seine Gefühle nicht zeigen kann und nicht aushält, dass sie sehr emotional reagiert und immer wieder über den Verlust sprechen will.
Die Frau wiederum kann seine distanzierte Haltung nicht akzeptieren und legt sie als Gleichgültigkeit aus. Jeder möchte, dass der andere sich ändert.
Die Liebe wird unter der gegenseitigen Nicht-Annahme und ihrem Nicht-Verstehen-Können begraben. Genau das – der Unterschied im Trauern und diese Kluft nicht überwinden zu können – erscheint mir als wesentlicher Grund für Krisen nachdem Verlust eines Babys.
In anderen Fällen vertieft sich die Beziehungen aber auch. Wie kann das gelingen?
Auch wenn ihr unterschiedlich trauert, versucht nicht, einander zu ändern! Die Liebe zwischen euch wächst, wenn ihr euch gegenseitig annehmt und mit Respekt behandelt. Es gehört sehr viel Reife dazu, den anderen verstehen und annehmen zu können.
Ihr könnt euch fragen:
- Wie hat sich der Verlust unseres Kindes auf unsere Beziehung ausgewirkt?
- Kann ich meinen Partner/meiner Partnerin zugestehen auf seine/ihre Weise zu trauern und ihn/sie in der Unterschiedlichkeit unserer Reaktionen akzeptieren und achten?
- Was würde uns gegebenenfalls die Annahme erleichtern?
- Was brauche ich vom anderen?
- Was bin ich fähig zu geben?
- Welche Qualitäten möchte ich für unsere Beziehung mehr leben?
Was ihr jetzt gemeinsam im Umgang mit eurem Kind tun könnt:
- Nehmt euch die Zeit, euer Kind kennenzulernen und zu verabschieden.
- Wenn es euch wichtig ist, lasst euer Kind beerdigen.
- Gebt eurem Kind einen (Kose-)Namen.
- Erlaubt euch, eure Gefühle auszudrücken und zu weinen.
- Bagatellisiert oder ignoriert eure Gefühle nicht.
- Akzeptiert, dass eure Gefühle sich schub- oder phasenweise zeigen und jede Trauerreaktion im Grunde völlig in Ordnung ist. Es gibt kein Richtig oder Falsch.
- Schafft ein Trauerritual: Schreibt eurem Kind einen Brief, lasst einen Luftballon steigen oder zündet eine Kerze an – insbesondere an Tagen, an denen der Schmerz besonders stark zu spüren ist, wie dem errechneten Geburtstermin, dem Jahrestag der Fehl- oder Todgeburt, an Weihnachten.
- Tauscht euch mit anderen Betroffenen z. B. in Selbsthilfegruppen aus.
- Hebt Erinnerungen auf: Das erste Ultraschallbild, der kleine Strampler, ein Kuscheltier.
- Trennt euch von den Kindersachen oder dem vielleicht schon eingerichteten Kinderzimmer dann, wenn es sich für euch richtig anfühlt.
- Wartet mit einer erneuten Schwangerschaft, bis der passende Zeitpunkt gekommen ist.
Was ihr jetzt im Umgang miteinander tun könnt:
- Gebt eurer Beziehung höchste Priorität.
- Habt Geduld miteinander und mit euch selbst.
- Sprecht offen, ehrlich und freundlich miteinander.
- Lasst körperliche Nähe und Berührung zu.
- Gesteht euch Privatsphäre zu.
- Erlaubt euch, das Leben zu genießen. Es ist gut, miteinander zu lachen und zu weinen.
- Entdeckt, was euch Spaß und Freude bereitet.
- Lernt wahrzunehmen, was jeder für sich in dieser Situation braucht und teilt euch eurem Partner / eurer Partnerin ganz klar mit. Damit übernimmt jeder zunächst einmal Verantwortung für sich selbst. Wenn du möchtest, dass er dich in den Arm nimmt, sag: „Ich möchte, dass du mich in den Arm nimmst.“
- Schaut, was jeder für den anderen tun kann. Für den Mann bedeutet das, für seine Partnerin einfach nur da zu sein, ohne „Wunder bewirken“ oder „groß was tun“ zu müssen. Für die Frau bedeutet es, seine Nähe und Zuwendung zulassen zu können, ohne zu erwarten, dass er das Gleiche fühlen muss wie sie.
- Unterstützt euch gegenseitig in dem Gedanken, dass es trotz allem noch so vieles andere gibt, wofür es sich zu leben lohnt.