Keine Muttergefühle: Ist das normal?

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27.11.2023

Keine Muttergefühle: Ist das normal?

„Ich habe mir dieses Kind so sehr gewünscht. Aber jetzt, wo es da ist, kann ich es einfach nicht lieben.“ erzählt mir Julia mit tränenerstickter Stimme. „Paul war ein Frühchen in der 32. Woche. Er wurde per Notkaiserschnitt auf die Welt geholt. Als ich ihn so im Brutkasten liegen sah mit all den Kabeln, hatte ich überhaupt keine Gefühle für ihn. Er hatte mit mir nichts zu tun.“ schildert Sonja relativ gefühlsneutral.

Das sind nicht die Gefühle, die von einer frischgebackenen Mutter erwartet werden. Viel eher erwartet das Umfeld, dass die Mutter vor Glück nur so übersprudelt, sich selbstlos für ihr Kind aufopfert und vieles tut, was sie für sonst keinen Menschen auf sich nimmt. Umso schwerer fällt es den Müttern, die gerade diese überwältigenden Muttergefühle nicht empfinden, offen darüber zu sprechen. Wenn sie es trotzdem tun – vielleicht mit ihrer besten Freundin – bekommen sie zwar gut gemeinte, aber wenig hilfreiche Antworten wie „Das wird schon!“.

Nüchtern betrachtet soll die Mutterliebe dafür sorgen, dass Frauen sich rund um die Uhr um ihr Baby kümmern, es beschützen, füttern, wickeln und all das entgegen ihren eigenen Bedürfnissen wie ausreichend Schlaf oder einer ausgiebigen Dusche. Letztendlich ein ausgeklügelter Trick der Natur. Trotzdem ist sie nicht einfach da, sondern entsteht und entwickelt sich durch das perfekte Zusammenspiel der Hormone und komplizierter Interaktionen zwischen Mutter und Kind. Was also kann passiert sein, dass du diese Muttergefühle nicht hast? Was kannst du tun, dass sie sich doch noch entwickeln? Diese Fragen beantworte ich dir in diesem Beitrag. Da es sehr viele unterschiedliche Faktoren gibt, die ganz individuell sind, werde ich mich hier auf die häufigsten konzentrieren.

1. Gesunde Entwicklung

Eine Schwangerschaft löst sowohl bei der Mutter als auch dem Vater verständlicherweise verschiedenste Gefühle aus. Zur Freude über die Schwangerschaft mischen sich Ängste, dass was schief läuft, vor den Schmerzen bei der Geburt oder davor, wie das Leben mit Kind weitergehen wird. Fantasien oder Geschichten anderer verstärken diese Ängste oft. Eine Vertrauensperson und eine Hebamme können hier sehr gut unterstützen.

Nach der Geburt muss ein Baby in dieser Welt und bei seinen Eltern ankommen. Es ist sehr schön, wenn das Kind der Mutter auf die Brust gelegt und vielleicht mit warmen Tüchern zugedeckt wird, so dass Vater und Mutter ihr Baby in Ruhe begrüßen können. Sie können vorsichtig anfangen, ihr Kleines vom Kopf bis zu den Finger- und Zehenspitzen zu berühren. So nehmen sie emotionalen Kontakt auf und sorgen dafür, dass sich eine Bindung aufbaut. Diesen Verbindungsaufbau nennt man Bonding.

In dieser Situation sind die Eltern von ihren Gefühlen überwältigt, ihnen fehlen die Worte, sie genießen den Augenblick. Vielleicht können sie sogar beobachten, wie das mit Frucht- und Käseschmiere überzogenen Baby versucht, vom Bauch der Mutter zur Brustwarze zu kommen und zum ersten Mal gestillt wird.

Ein Neugeborenes muss also nicht sofort gebadet und angezogen werden. Das kann der Vater gerne später noch tun und so weitere schöne Momente schaffen, die der gesunden Bindung dienen.

Während der Geburt wird vermehrt Oxytocin ausgeschüttet, was einerseits die Wehen auslöst, andererseits dafür sorgt, dass die Milch zur Brustwarze transportiert wird. Es fördert das Gefühl von Nähe und Sich-vertraut-fühlen. Es ist ein wichtiges Bindungshormon, das auch vom Vater ausgeschüttet wird. So wird die Bonding-Entwicklung zwischen den Familienmitgliedern gefördert, die ja schon während der Schwangerschaft begonnen hat. Die Eltern werden schon sehr bald damit beschäftigt sein, sich darum zu kümmern, wie es dem Baby geht, wo es ist, was es tut und es auf keinen Fall einer anderen Person anvertrauen wollen.

2. Wie wurde dein Kind gezeugt?

In-vitro-Fertilisation

Manche Paare versuchen schon seit vielen Monaten oder Jahren, endlich schwanger zu werden. Dass es nicht klappt führt zu Stress, Angst und Depression. Der Kinderwunsch wird unerträglich oder zum vorrangigen Lebensinhalt. Die Beziehung leidet.

Eine Lösung könnte die In-vitro-Fertilisation sein, in der die Befruchtung in einem Reagenzglas erfolgt und das befruchtete Ei dann der Mutter eingepflanzt wird. Viele Versuche scheitern früher oder später, weil das Ei sich nicht einnistet oder abgestoßen wird. Das sorgt dafür, dass die Paare resignieren, verzweifeln und sich fragen, ob sie diese Tortur, die Zeit und Geld kostet, noch einmal über sich ergehen lassen sollen.

Wird dann endlich eine intakte Schwangerschaft bestätigt, verhindert die Angst, sie könne bald wieder ein Ende haben, sich wirklich auf das Kind zu freuen und schon mal erste Bindungen aufzubauen. Ei- oder Samenspende

Kommt eine In-vitro-Fertilisation nicht infrage, bleibt noch eine Ei- oder Samenspende. Möglicherweise empfindet der Elternteil, der nichts zur Schwangerschaft beigetragen hat, das Kind als fremd. Oder er empfindet Eifersucht gegenüber dem Spender und fühlt sich ausgeschlossen. Als Konsequent distanziert er sich emotional vom Kind.

Ungewollte Schwangerschaft

Eine nicht geplante Schwangerschaft irritiert ein Paar meistens sehr. So lange die Frage im Raum steht, ob das Kind abgetrieben oder behalten werden soll, beeinträchtigt das zumindest die Bindung zum Kind.

Möglicherweise stellt ein Partner auch fest, dass er unbewusst einen Kinderwunsch hatte. Was zu noch größerer Verwirrung und dem Wunsch, für das Leben des Kindes zu kämpfen, führt.

Paare, die ungewollt schwanger wurden, schwanken zwischen intensiver Liebe und Vorfreude auf ihr Kind und seiner Ablehnung.

Erst wenn sich das Paar dafür entscheidet, die Schwangerschaft fortzuführen, kann eine positive Bindung zum Kind aufgebaut werden – was allerdings weitere ambivalente Gefühle nicht ausschließt.

Vergewaltigung

Wenn ein Kind aufgrund einer Vergewaltigung entstanden ist, empfindet die Mutter gegenüber ihrer Schwangerschaft extrem ambivalente Gefühle. Sie muss entscheiden, ob sie das Kind bekommen oder abtreiben möchte.

Das Kind, das ja Teil des Vergewaltigers ist und immer wieder an die grausame Tat erinnert, wird stellvertretend abgelehnt. Die negativen Gefühle stehen im Vordergrund, auch wenn ein Teil in den meisten Müttern sich trotzdem auch auf das Kind einlassen kann.

One-Night-Stand

3. Wie ist die Schwangerschaft verlaufen?

  • Leihmutterschaft
  • Mehrlinge
  • Trennung vom Vater
  • Medizinische Diagnose beim Kind
  • Psychische Erkrankung der Mutter oder des Vaters
  • Komplikationen
  • Gewalterfahrung

4. Wie kam dein Kind zur Welt?

  • Lebensbedrohliche Notfallsituation
  • Frühgeburt
  • Geplanter Kaiserschnitt
  • PDA
  • Künstliche Hormone

5. Wie waren die ersten Tage?

  • Trennung vom Kind
  • Behinderung des Neugeborenen
  • Psychiatrische Erkrankung der Eltern
    • Baby-Blues
    • Postnatale Depression

6. Welche Erfahrungen hast du gemacht, bevor du schwanger wurdest?

  • Als Kind
    • Sexueller Missbrauch
    • Adoption / Pflegeschaft
    • Vernachlässigung
    • Gewalt
    • Psychisch kranke Eltern
  • Mit vorherigen Schwangerschaften
    • Fehlgeburt
    • Todgeburt
    • Schon ein behindertes Kind
    • Plötzlicher Kindstod

Fehl- oder Todgeburten, die Geburt eines kranken, behinderten Kindes oder auch ein Kind, das den plötzlichen Kindstodes gestorben ist, stellt für Eltern ein belastendes und manchmal sogar ein traumatisierendes Ereignis dar.

Eine erneute Schwangerschaft lässt alte, vielleicht schon als verarbeitet eingestufte Erinnerungen wieder wach werden. Sie treten tagsüber oder in den Träumen auf. Manchmal erleben Betroffene das vergangene Ereignis so intensiv, als ob es jetzt gerade geschehe. Das stellt einen enormen Stressfaktor dar.

 

„Was, wenn das nochmal passiert“ ist eine Angst, die ständig begleitet und eine Bindung an das ungeborene Kind verhindert oder zumindest erschwert.

7. Zusammenfassung

Die Bindungsentwicklung kann während Schwangerschaft, Geburt und der ersten Lebensmonate sehr leicht gestört werden. Sie ist durch viele Dinge, die Stress auslösen, leicht zu irritieren. Umgekehrt fördert jede emotionale Sicherheit, die die Eltern während Schwangerschaft, Geburt und in den ersten Lebensmonaten erfahren, dass sich eine sichere Bindung entwickelt.

Leider laufen schon in der frühen Entwicklungszeit viele Bindungsprozesse schief. Ungünstige Umstände stressen die Eltern dermaßen, dass sie in der Schwangerschaft keinen Kontakt zum Ungeborenen aufnehmen können. Eine entspannte Geburt zu erleben oder nach der Geburt liebevollen Kontakt zu ihrem Baby aufzunehmen, ist unmöglich.

Die Bindungsentwicklung sollte so früh wie möglich professionell korrigiert werden. Frühzeitige Interventionen helfen Eltern trotz widriger Umstände oder eigener Traumatisierungen in einen guten Bondingprozess zu kommen. Dann werden sich auch die Kinder empathisch und beziehungsfähig entwickeln.

Sicher gebundene Kinder holen sich Hilfe, wenn sie welche benötigen. Sie haben mehr Freunde. Sie können auf verschiedene Bewältigungsstrategien zurückgreifen, die sie auch in Beziehungen einsetzen können. Kinder mit sicheren Bindungen sind kreativer, ausdauernder, differenzierter. Sie lernen schneller und können sich Dinge besser merken. Sie lösen Konflikte konstruktiv und reagieren weniger aggressiv.

Das Ziel ist also, Eltern in die Lage zu versetzen, eine sichere Bindung zwischen ihnen und dem Kind entstehen zu lassen.

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Ruth Hollederer

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